Aurelio, unser internationaler Verantwortlicher, hat mir einen sehr brüderlichen Besuch in Paris abgestattet. Er hat mich gebeten, das mitzuteilen, was ich den Priestern der Bruderschaften sagen möchte. So möchte ich mit Euch austauschen über das, was Euer Leben und Euer priesterliches Tun ausmacht.
Eines Abends, als ich die Metro zu den Spitzenzeiten benutzte, war ich stehend von allen Seiten umschlossen und fand keinen festen Haltepunkt für meine Hand. Je nachdem wie die Metro schlingerte, stützte ich mich auf meine Nachbarn. Jemand hat mich erkannt und lächelte über meine prekäre Lage. Als wir bei derselben Station ausstiegen, konnte ich es nicht unterlassen, ihm zu sagen: „Sehen Sie, was einen Bischof aufrecht hält, das sind die Leute…“
1. Vom Menschlichen ausgehen.
In der Nachfolge von Charles de Foucauld sind wir geprägt von der Spiritualität von Nazareth: ein einfacher und armer Lebensstil in Verbundenheit mit dem normalen Leben der Menschen. Jesus, der Mann aus Nazareth, hat viele Erfahrungen machen können von den Ungerechtigkeiten seiner Zeit durch seine Arbeit, durch seine freundschaftlichen Beziehungen zu den Armen, seine Nähe zu den Familien, wo er Freud und Leid geteilt hat, durch sein Gebet zum Vater in der Einsamkeit. Sein Herz, von all diesen Begegnungen erfüllt, brannte vom Feuer seiner Liebe zu seinem Volk. Dieses langsame Reifen bereitete ihn vor für seine prophetische Sendung, die er auf erstaunliche Weise in der Synagoge von Nazareth begann. Seine Stunde war gekommen. Luk 4,18-19
„Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe. Damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; Damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“
Das ganze öffentliche Leben Jesu wird eine Verwirklichung dieser Predigt von Nazareth sein. Das ist kein religiöser Vortrag, der vom Gesetz spricht: es ist eine Rede, die nur vom menschlichen Wesen spricht. Es ist keine Rede über Gott, es ist eine Rede über den Menschen.
Das ist keine Abhandlung über eine bewahrende Wiederherstellung, es ist eine große Befreiungsbotschaft, die das Leben umkrempelt. Welch erstaunliche Rede!
Die Spiritualität von Nazareth kann nicht über eine solche Verkündigung hinweggehen. Gerade sie ist es, die unserem priesterlichen Tun und Leben eine prophetische Dimension einhaucht.
Es begegnen mir, wie Euch sicher auch, Leute, die sagen: „ich bin kein praktizierender Christ mehr, oder schon seit langer Zeit habe ich aufgehört zu praktizieren.“
Für diese Leute geht es ganz klar um die religiöse Praxis. Aber die fundamentale Praxis des Evangeliums ist die der Gerechtigkeit und der Liebe, die wir dem Nächsten schulden. Das ist nicht die religiöse Praxis!
Beim jüngsten Gericht wird man mich nicht fragen, wie viel Messen ich gefeiert oder Trauungen abgehalten habe. Man wird mich fragen: „Was hast Du mit meinem Bruder gemacht, der fremd, gefangen, krank, hungrig war…“
Das Wesentliche ist die Praxis des Bruders, die Praxis der Solidarität. Davon ist niemand dispensiert, auch nicht als Rentner. Wie konnte es geschehen, dass so viele Christen nicht die Bedeutung dieser Praxis der Gerechtigkeit und der Liebe, die dem Nächsten geschuldet ist, entdeckt haben?
In der Synagoge von Nazareth kündet Jesus an, dass er gekommen ist, die gute Nachricht den Armen zu bringen. Er sagt nicht: den Reichen, den Mächtigen…
Er entscheidet sich für die Armen, er beginnt mit ihnen. Er stellt sich auf die Seite der Unterdrückten und nicht der Unterdrücker. Auf die Seite der Opfer und nicht der Mächtigen. Auf die Seite der Gedemütigten und nicht derer, die sie ausbeuten.
Jesus hat sich sofort den Verstoßenen, den Vergessenen zugewandt. Indem er sich entscheidet, mit den Armen zu beginnen, öffnet er sich für alle. Er weist niemand zurück.
Wie selten geschieht es, in der Gesellschaft wie in unserer Kirche, dass man die Entscheidung trifft, mit den Armen zu beginnen.
Ich freue mich darüber, dass Papst Franziskus entschieden hat, Mgr. Romero heilig zu sprechen, eine prophetische Gestalt des Kampfes für die Gerechtigkeit.
„Wir haben die notwendigen Veränderungen in der Kirche, in der Pastoral, der Erziehung, dem priesterlichen und geistlichen Leben, in den Laien-Bewegungen nicht durchführen können, solange unser Blick einseitig auf die Kirche gerichtet war. Nun können wir daran gehen, weil wir uns den Armen zuwenden.“
„Wenn sie von den Armen ausgeht, kann die Kirche für Alle da sein, kann sie den Mächtigen einen Dienst erweisen durch eine Pastoral der Bekehrung; aber nicht umgekehrt, wie das so häufig passiert ist.“
Rede in der Universität von Löwen, Oskar Romero, anlässlich der Verleihung des Ehrendoktors am 2. Februar 1980.
„…es ist überhaupt keine Ehre für die Kirche, gute Beziehungen zu den Mächtigen zu unterhalten. Die Ehre der Kirche ist, dass die Armen spüren, dass sie für sie da ist.“ Oscar Romero. Salvador, Predigt vom 17. Februar 1980.
2. Eine Hoffnung für die Armen sein.
Ein Wort von Dom Helder Camara hatte mich einst beeindruckt: „Wenn ich nicht eine Hoffnung für die Armen bin, werde ich nicht der Priester Jesu-Christi sein.“
Léon Schwartzenberg, ein berühmter Cancerologe, hat sich in seinem Ruhestand sehr eingesetzt in der „Vereinigung der Menschen ohne Papiere“, in der ich auch Mitglied bin. Er war mein Freund. Als ungläubiger Jude nannte er mich „Mein Lieblings-Bischof“
Als er gestorben war, brachte man ihn auf den Friedhof Montparnasse in Paris im Jüdischen Viertel. Eine große Menge von Armen hatte sich eingefunden auf dem Friedhof: Leute ohne Ausweis, Obdachlose waren gekommen, oft von weither, für Léon, der soviel für sie getan hatte und der für sie ein Zeichen der Hoffnung blieb.
Als Victor Hugo, der berühmte Autor der „Misérakles“ gestorben ist, hat sich sofort eine große Menge von Zig-Tausenden von Armen in ganz Paris gebildet, um ihn zu seiner letzten Ruhestätte, dem Pantheon, zu begleiten. Er hatte nicht das Gebet der Kirche gewünscht, aber im Leichenwagen der Armen, den er erbeten hatte, wurde ihm die Anerkennung der „Armen“ von Paris zuteil. Und heute, da, wo ich lebe, wer hält die Hoffnung für die Armen hoch?
Bei meinem Abschied von Evreux 1995 hatte ich mich in einer Abschiedspredigt in der Kathedrale an die Menge gewandt: „Jeder Christ, jede Gemeinschaft, jede Kirche, die nicht zunächst und vor allem sich auf den Weg der Not der Menschen begibt, hat überhaupt keine Chance, als Träger einer guten Nachricht gehört zu werden.
Jeder Mensch, jede Gemeinschaft, jede Kirche, die nicht zunächst und vor allem eine brüderliche Beziehung zu jedem Menschen sucht, wird nicht den Weg zu seinem Herzen finden, die verborgene Stelle, wo die Frohe Botschaft aufgenommen werden kann.“
Jesus ist eine große Hoffnung für die Armen gewesen. Er hat sich ihnen zugewandt mit Barmherzigkeit, niemanden ausschließend. Die Entrechteten haben mit Bewunderung entdeckt, dass sie von Gott vorgezogen wurden.
Im Evangelium wird deutlich: die einzige Möglichkeit, jemanden zu befreien, ist die, seine Würde anzuerkennen.
3. Die Grenzen überschreiten:
Habt ihr bemerkt, wie ansteckend die Mauern in der Welt werden? Überall erstehen sie jetzt. Mauern, die die Völker trennen und sie daran hindern, sich frei zu bewegen. Mauern aus Stacheldraht, um sich vor der Ankunft der Flüchtlinge zu schützen. Bei der „Vereinigung der Menschen ohne Papiere“, wo es zahlreiche Nationen gibt, haben wir als Devise: „Keine Mauern zwischen den Völkern, keine Völker zwischen Mauern.“
Ich liebe keine Mauern. Wenn ich in die Gefängnisse gehe, bin ich froh wieder herauszukommen aus diesen Mauern, die mich jeglichen Horizonts berauben!
Jesus hat sein Leben verbracht, um Mauern zu Fall zu bringen: die Mauer des Geldes, die Mauer der Vorurteile und des Misstrauens, die Mauer der Gleichgültigkeit und des Vergessens. Und besonders durch seinen Tod am Kreuz hat er die Mauer des Hasses niedergerissen, die uns alle voneinander trennte. Ich halte es für sehr bedeutsam, dass Jesus außerhalb der Mauern geboren wurde und außerhalb der Mauern gestorben ist.
Um das Licht der Ostersonne zu sehen, muss man Mauern hinter sich lassen..
Die Grenze überschreiten, in uns selber ist schwierig. Welche Bekehrung müssen wir da vollziehen! Aber ist das nicht nötig, um ein universeller Bruder zu werden? Man kann in die Mission gehen bis zum Ende der Welt und hat in sich ein altes und unangemessenes kulturelles Modell.
Wir gehören in Europa Gesellschaften an, die nicht mehr von den traditionellen christlichen Werten geprägt sind. Warum alle auf die Werte verpflichten, die nur für eine begrenzte Gruppe von Personen anwendbar sind?
Neuer Wein in neue Schläuche. Als man in Frankreich die Heirat zwischen Personen gleichen Geschlechts erlaubt hat, gab es einen großen Aufstand. Auch bei den Priestern. Bei dieser Anerkennung der homo-sexuellen Paare ging es nicht um Toleranz, sondern um Recht. Das ist eine bedeutsame kulturelle Veränderung.
Heute haben sich in einem weltweiten Prozess alle Religionen in den großen Städten eingeführt. Sie sind präsent in den Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen, Arbeitsstellen. Ein Gefängnispfarrer hat mir anvertraut:“Dreißig Jahre lang war ich der einzige Seelsorger, alles ging gut. Nun gibt es einen Rabbiner, einen Imam, einen protestantischen Pfarrer und einen Evangelisten, mit dem ich mich nicht verstand. Es war Zeit, dass die Rente kam!“
Das lässt mich an ein afrikanisches Sprichwort denken: „wenn man allein ist, geht man schneller, wenn man zusammen ist, geht man weiter.“
Wie kann man ein universeller Bruder werden, ohne zu akzeptieren, etwas von dem Anderen zu empfangen?
Und wenn man an den sozialen Status der Priester ranginge? Ich wohne in einem Land, wo die Priester selten werden und wo die christlichen Gemeinden sich einladend zeigen. Ich kann nicht anders als träumen von erfahrenen Frauen und Männern, die verheiratet oder nicht, berufstätig, berufen werden. Für eine bestimmte Zeit. Mit dem Einverständnis der Gemeinden und des Bischofs würde man ihnen die Hand auflegen.
Man müsste nicht mehr darauf warten, dass die Kandidaten sich präsentieren, sondern anfangen, Menschen zu berufen nach den Erfordernissen der örtlichen Kirche.
Man kann sich übrigens fragen: sind die, die sich heute in den Seminaren präsentieren, die Priester, die die Kirche morgen braucht?
Charles de Foucauld war offen für die Ereignisse. Die Ereignisse veränderten ihn. Er war ein Mensch der Wege und des Suchens, er war fähig, nach woanders hin aufzubrechen und anders zu leben, er setzte sich niemals fest, sich fest einrichten bedeutete Tod. Um Jesu und des Evangeliums willen war er bereit, zum Äußersten zu gehen.
Wir sind in eine neue Welt gelangt. Wir sind Zeugen des Endes einer Welt, aber auch Zeugen der Geburt einer anderen Welt, von der wir nicht wissen, wie sie sein wird. Auf unserem Weg eröffnen sich neue Horizonte, wir öffnen uns für das Neue
In Frankreich kommen wir jeden Monat treu in der Bruderschaft zusammen. Es berührt mich zu sehen, wie wir ankommen, beladen mit der Last der Jahre, müde, behindert.
Man glaubt schon, dass wir tot sind. Aber die das sagen, haben vergessen, dass wir Samenkörner waren. Samenkörner des Lebens.
Das Morgen ist noch zu erschaffen.
+ Jacques Gaillot,
Bischof von Partemien